Phantomschmerzen

Das gibt es doch gar nicht! Ein Phantom ist etwas, das eigentlich nicht da ist und trotzdem wahrgenommen wird – ein Trugbild. So ähnlich verhält es sich mit den Phantomschmerzen. Sie treten in Körperteilen auf, die nicht mehr vorhanden sind – meist durch Amputation. Doch wie ist das möglich? Wie kann ein Schmerz von etwas ausgehen, das nicht mehr da ist? Betroffene empfinden meist starke Qualen und sind lange Zeit nicht ernst genommen worden. Heute weiß man, dass die Schmerzempfindung durchaus real ist, auch wenn der schmerzende Körperteil – meist sind es Gliedmaßen – nicht mehr vorhanden ist. Neurowissenschaftler versuchen den Ursachen für die Schmerzen auf die Schliche zu kommen, um so den Patienten helfen zu können.

Was sind Phantomschmerzen?

Ein Schmerz in einem abgetrennten Körperteil wird als Phantomschmerz bezeichnet. Neben Gliedmaßen wie Armen und Beinen können die Schmerzen auch nach einer Brustamputation oder Zahnentfernung auftreten. Betroffene berichten von plötzlich, ohne erkennbaren Grund auftretenden Schmerzen sowie davon, dass Berührungen an einer anderen Körperstelle Schmerzen im amputierten Körperteil auslösen. Oft wird das Phantomglied als verrenkt, verkürzt oder auf andere Weise in veränderter Form wahrgenommen.

Der Phantomschmerz im sogenannten Phantomglied, das eigentlich nicht mehr vorhanden ist, muss definitorisch vom Stumpfschmerz abgegrenzt werden. Beim Stumpfschmerz handelt es sich nicht um eine Schmerzempfindung im abgetrennten Körperteil, sondern um einen lokalen Schmerz im verbliebenen Stumpf. Beide Arten von Schmerzen können jedoch auch zeitgleich oder im Wechsel auftreten.

Mögliche Ursachen für die Schmerzen

Die meisten Amputationen werden in Deutschland nicht in Folge von Unfällen, sondern wegen Vorerkrankungen wie Diabetes, Gefäßerkrankungen, Infektionen oder Tumoren vorgenommen. Etwa 60 bis 80 Prozent der Patienten nehmen danach Schmerzen im abgetrennten Körperteil wahr. Daneben können Phantomempfindungen wie Kribbeln oder Jucken sowie Wärme- oder Kälteempfindungen auftreten, die zwar unangenehm, jedoch nicht zwingend schmerzhaft sind. Während manche Betroffene über ständige Phantomschmerzen oder -empfindungen klagen, kommen sie bei vielen nur bei Wetterumschwung, Stress oder anderen Auslösern vor.

Abgrenzung zu Stumpfschmerzen

Demgegenüber stehen die sogenannten Stumpfschmerzen. Etwa jeder Zweite klagt nach einer Amputation über Stumpfschmerzen, die entweder spontan oder nach dem Anpassen einer Prothese auftreten können. Diese meist brennenden, stechenden oder geradezu elektrisierenden Schmerzen, die zuweilen auch an Krämpfe erinnern, sind im Stumpf selbst zu lokalisieren. Häufig sind diese Schmerzen auf eine gestörte Wundheilung oder lokale Reize, etwa durch eine reibende oder drückende Prothese, zurückzuführen. Knochenmarkentzündungen sowie Durchblutungsstörungen können ebenfalls zu Schmerzen an der Amputationsstelle führen.

Lange Zeit hat man gutartige Knotenbildungen, sogenannte Neurome, für Phantomschmerzen verantwortlich gemacht. Dabei handelt es sich ursächlich um Irritationen der durchtrennten Nervenendungen. Infolgedessen werden Berührungen und andere Reize am Stumpf besonders intensiv wahrgenommen. Dadurch verursachen Neurome in aller Regel Stumpfschmerzen, sind jedoch nicht die Quelle für Phantomschmerzen.

Phantomschmerzen sind real

Trotzdem versuchte man noch bis ins 20. Jahrhundert, die durchtrennten Nervenbahnen am Stumpf weiter zu kürzen, um so gegen Phantomschmerzen vorzugehen. In der Regel blieben diese Operationen jedoch ohne Erfolg und verursachten oft sogar mehr Schmerzen als zuvor. Ein wichtiger Durchbruch gelang erstmals 1998 dem Neurologen Vilayanur S. Ramachandran von der University of California in San Diego, der in einer Folge von Experimenten einen Zusammenhang zwischen den Berührungen anderer Körperteile und den Phantomschmerzen herstellen konnte. Als der Forscher bei einem Probanden das Gesicht berührte, meinte dieser, der Forscher hätte seinen abgetrennten Daumen berührt. Das Konzept des „cortical re-mapping“ war geboren.

Die Idee dahinter basiert auf dem Aufbau des Gehirns und seinen Zuständigkeiten. In der Großhirnrinde, dem Cortex, finden sich spezialisierte Hirnareale, die jeweils einzelnen Körperteilen zuzuordnen sind und deren Funktionen kontrollieren. Man kann sich diese Zuständigkeitsfelder wie eine Landkarte im Gehirn vorstellen und auch die Mediziner sprechen von corticalen Karten. Hier werden Sinnesreize der einzelnen Körperteile verarbeitet. Doch fehlt ein Körperteil aufgrund einer Amputation plötzlich, kommen auch keine Signale mehr im zuständigen Bereich an. In der Folge stellt sich das Hirn auf die veränderte Situation ein, um das Hirnareal nicht ungenutzt zu lassen. Die Fähigkeit der corticalen Plastizität ist damit eigentlich etwas sehr Effizientes. Doch bei einigen Patienten kommt es zu Störungen in der Umstellung. Häufig expandiert das benachbarte Zentrum und besetzt das verwaiste Areal im Gehirn. Empfindungen aus diesem Hirnareal werden dann im nicht mehr vorhandenen Körperteil wahrgenommen.

Beim fehlerhaften Remapping werden Sinnesreize des vorhandenen Körperteils, etwa des Gesichts, in zwei Cortex-Bereiche weitergeleitet. Durch diese Überlagerung, so nimmt Ramachandran an, kommt es womöglich zum Schmerz.

Der kanadische Psychologe Ronald Melzack argumentiert ähnlich wie Ramachandran. Seiner Ansicht nach kommt es trotz, oder besser wegen der Amputation zu einer erhöhten Aktivität im entsprechenden Hirnareal. Die für den abgetrennten Körperteil jeweils zuständige Hirnregion sucht weiter nach Signalen, jedoch ohne Erfolg. Im Gegenzug werden die Nervensignale der Nachbarregionen, die bereits in das verwaiste Areal vordringen, wie durch einen Verstärker intensiver und damit als Schmerz wahrgenommen. Melzack machte außerdem die Beobachtung, dass Schmerzpatienten den abgetrennten Körperteil meist verzerrt wahrnehmen. Durch Behandlungsmaßnahmen, die auf die „normale“ Vorstellung des verlorenen Körperteils abzielen, lassen sich daher Erfolge in der Schmerztherapie feiern.

Therapie

Nachdem man Schmerzpatienten nach Amputationen lange lediglich mit Schmerzmitteln behandelt hat, stehen heute weitere Behandlungsmethoden und Medikamente zur Verfügung. Mit Antidepressiva und Neuroleptika soll die übermäßige Erregung der Nerven gedämpft und somit auch der Schmerz gelindert werden. Auch durch die Gabe des Schilddrüsenhormons Calcitonin konnten Erfolge gefeiert werden. Allerdings gehen diese Therapiemaßnahmen zuweilen mit unerwünschten Nebenwirkungen einher.

Daher werden von Medizinern mittlerweile zahlreiche alternative Therapieansätze wie Akupunktur, Physiotherapie, Hypnose, Bäder, Massagen und Elektrostimulation in Betracht gezogen. Bei der Elektrostimulation sorgen schwache Stromreize am Stumpf dafür, dass im Hirn neue Verbindungen zwischen den Nervenzellen geschlossen werden. Schmerzhafte Empfindungen werden dadurch gewissermaßen „überschrieben“. Auch Akupunktur gilt als äußerst effektiv in der Schmerztherapie.

Ein anderer Therapieansatz geht ebenfalls auf den Pionier Vilayanur S. Ramachandran zurück, der 1996 die sogenannte Spiegeltherapie entwickelt hat. Bei dieser speziellen Verhaltenstherapie setzt sich der Patient so vor einen Spiegel, dass der vorhandene Körperteil reflektiert wird und auf diese Weise wie der abgetrennte Körperteil wirkt. Patienten bekommen das Gefühl beispielsweise noch beide Hände bewegen zu können. Das dadurch aktivierte Hirnareal muss die ansonsten fehlenden Sinnesinformationen nicht durch Schmerz ersetzen. Auf dem gleichen Prinzip basiert die moderne Therapie mittels Computersimulation. Die Möglichkeiten von Virtual Reality erlauben ein viel realistischeres „Nachbauen“ des verloren Körperteils.

Darüber hinaus ist ein weiteres Experiment von Ramachandran bemerkenswert: Die sogenannte Gummihandschuh-Illusion. Dieses Spiel mit der Einbildungskraft des menschlichen Gehirns konnte Erklärungsansätze dafür bieten, warum auch Menschen, denen von Geburt an ein Körperteil fehlt, zuweilen unter Phantomschmerzen leiden. Scheinbar ist die Wahrnehmung des Körperbilds genetisch vorbedingt, jedoch beeinflussbar. Füllt man einen Gummihandschuh mit Wasser und legt diesen auf einen Tisch, während der Proband die linke Hand unter dem Tisch versteckt, verschmelzen Sinneseindrücke der eigenen Hand und des Gummihandschuhs miteinander. Dazu muss der Versuchsleiter nur ein paar Minuten beide gleichzeitig – die linke Hand unter dem Tisch und die „künstliche“ Hand auf dem Tisch – streicheln. Wird nun nur noch der Gummihandschuh berührt, meint der Proband den Reiz auf dem eigenen Körper zu spüren. Was der Mensch als Teil von sich selbst wahrnimmt, lässt sich also beeinflussen.

Dem Schmerz vorbeugen

Heutzutage versucht man zumindest bei planbaren Amputationen dem fehlerhaften corticalen Remapping im Vorhinein entgegenzuwirken. Präoperatives Schmerzmanagement durch Analgetika und Neuroleptika soll die vor der OP geläufigen Empfindungsmuster implementieren und die fehlerhaften Umbauvorgänge verhindern. Auch das möglichst frühe Tragen einer gut passenden Prothese soll verhindern, dass es zum Phantomschmerz kommt. Obwohl auf dem Gebiet der Schmerztherapie bei Amputationen in jüngster Vergangenheit zahlreiche Erfolge gefeiert werden konnten, können die derzeit bekannten Maßnahmen noch immer nicht allen Patienten mit Phantomschmerzen helfen. Das Zusammenwirken von Hirn und Schmerzempfinden muss dazu noch genauer untersucht werden.

Aktualisiert am 17. Februar 2021